Lettre Ulysses Award for the art of reportage


Shortlist 2006

Zweite Presseerklärung / Shortlist

Berlin, 6. September 2006

Nominierungen für den Lettre Ulysses Award 2006
Weltpreis für Reportageliteratur

Internationale Jury benennt sieben Finalisten

Die zehnköpfige Jury des Lettre Ulysses Award for the Art of Reportage hat über die sieben Finalisten des mit insgesamt 100.000 USD dotierten Weltpreises für Reportageliteratur entschieden. Die nominierten Texte schicken uns in sieben Reportagen über Asien, Lateinamerika, Afrika, Europa bis in den Mittleren Osten auf eine Reise um die Welt. Ihre Autoren kommen aus Österreich, Großbritannien, Kolumbien, China, Frankreich und Nepal. 

Die sieben Finaltexte

* Karl-Markus Gauss, Österreich: Die Hundeesser von Svinia, Paul Zsolnay Verlag, Wien, 2004

* Linda Grant, Großbritannien: The People on the Street. A Writer’s View of Israel, Virago Press, London, 2006

* Juanita León, Kolumbien: País de plomo. Crónicas de guerra, Aguilar, 2005 [Country of Bullets. War Diaries]

* Li Datong, China: "Bingdian"  Gushi, Guangxi Shifan Daxue Chubanshe”, 2005 [The Story of "Freezing Point", Guangxi Normal University Press, 2005]

* Erik Orsenna, Frankreich: Voyage aux pays du coton. Petit précis de mondialisation, Fayard, Paris, 2006 [Journey to the Lands of Cotton. A Brief Manual of Globalisation]

* Manjushree Thapa, Nepal: Forget Kathmandu: An Elegy for Democracy, Penguin Viking India, Neu Delhi, 2005

* Zhou Qing, China: "Min Yihe Shi Wei Tian". Zhongguo Shipin Anquan Xianzhuang Diaocha, Bangao Wenxue, 9/2004 ["What Kind of God" . A Survey of the Current Safety of China’s Food, in: Reportage Literature 9/2004]

Kurzbeschreibungen der nominierten Texte

Karl-Markus Gauss, Die Hundeesser von Svinia
Die Slowakei ist eines der jüngsten Mitglieder der Europäischen Union und gilt mit ihren niedrigen Löhnen und Steuern als wahres Investitionsparadies. Dort leben auch 800.000 Roma. Der österreichische Schriftsteller Karl-Markus Gauss berichtet in seinem 2004 erschienenen Buch Die Hundeesser von Svinia von seinen 2001 bis 2003 unternommenen Reisen in den Osten des Landes. Dort taucht er ein in das Leben der Roma, die mit ihrer Geschichte der Umsiedlung, Verfolgung und Missachtung heute zu den ärmsten Bevölkerungsgruppen Europas gehören. Von der Mehrheitsgesellschaft ignoriert, leben sie in etwa 300 Stadtrandghettos und ländlichen Siedlungen. Ihr Alltag ist geprägt von Identitätsverlust, Elend und Orientierungslosigkeit. Der Slum von Svinia ist ein Ort, wie aus der Welt und Zeit gefallen. In dieser Vorhölle leben die „Hundeesser“, die niedrigste Kaste, die Parias der Roma.

Linda Grant, The people on the Street. A Writer's View of Israel
Die britische Journalistin und Autorin Linda Grant, eine nicht-religiöse Diaspora-Jüdin, reist im Jahre 2003 nach Tel Aviv, um einen Roman zu schreiben. Doch ihr Besuch wird zum Anlaß einer so rhapsodischen wie gründlichen Sondierung jüdischer Identität und deren Beziehung zum Staat Israel. The People on the Street. A Writer’s View of Israel ist die Reise in eine einzigartige und problematische Gesellschaft, in die Sprache und Biographien ihrer Bewohner, ihre Archetypen und Geschichten, ihre Verzweiflung und ihre Hoffnung. Unter den Menschen, denen sie begegnet, sind Teenager-Soldaten und Siedler tunesischer Herkunft, russische Wissenschaftler und im Irak geborene Ladenbesitzer, Kibbuz-Bewohner und Straßenhändler, Schriftsteller und Taxifahrer, Caféhausbesitzer und Passanten. Beobachtungen aus einem aufgewühlten Land, das entschlossen ist, seine Existenz zu verteidigen und das in einen Konflikt verstrickt ist, der eher tragische Konsequenzen als friedliche Perspektiven verspricht.

Juanita León, País de Plomo. Crónicas de Guerra
Seit 1948 ist Kolumbien zerrissen von Gewalt und Bürgerkrieg. Gegen die konservative Oligarchie und die Militärführung entstand die Guerillabewegung der „Liberalen“ und eine von der kommunistischen Partei unterstützte Selbstverteidigungsorganisation der Bauern. Der Konflikt führte zu hunderttausenden von Opfern. Später traten die Drogenkartelle und Paramilitärs auf die Bühne. Morde an Richtern, Politikern, Gewerkschaftsführern und studentischen Aktivisten gehen auf ihr Konto. In ihrem 2005 erschienenen Buch Land des Bleis, Kriegstagebücher beschreibt die kolumbianische Journalistin Juanita León alle wesentlichen Facetten des Dramas: das Leiden der Landbevölkerung, das Wüten der Todesschwadronen, die Unfähigkeit der Regierung, die Rolle der Drogenökonomie und der zunehmende Verlust der Humanität. Ideale sind verschwunden, Ideologie spielt keine Rolle mehr, Guerilla und Paramilitärs scheinen sich in Grausamkeit, Skrupellosigkeit und Geldgier immer mehr zu ähneln. Beobachtungen und Begegnungen in einem Vielfrontenkrieg.

Li Datong, The Story of "Freezing Point"
Im Januar 2006 schockierte die Nachricht von der Schließung der Zeitschrift "Freezing Point" Weekly die politisch-kulturelle Öffentlichkeit Chinas. Damit machte die chinesische Regierung dem mutigsten Pressetitel, einem Hoffnungszeichen für Meinungsfreiheit, den Garaus. ‘Freezing Point’ war die Wochenbeilage des Zentralorgans der kommunistischen Jugendliga, geleitet von dem Journalisten Li Datong. Dieser hatte nach dem Tiananmen-Massaker 1989 fünf Jahre Arbeitsverbot erhalten, konnte aber in einer Periode der Kommerzialisierung und Liberalisierung 1995 Leiter dieses Magazins werden. Er machte aus ihm einen Ort, an dem das Alltagsleben der einfachen Chinesen auf vitale Weise zur Sprache kommen konnte. Mutige und menschennahe Reportagen zeigten das Bild einer Gesellschaft, in der Gesetzlosigkeit, Korruption, Ausbeutung und die Propaganda kontrollierter Massenmedien den Ton angeben. Als zunehmend beliebteste Publikation Chinas wurde ‘Freezing Point’ für die Regierung immer unbequemer. Li Datong erzählt die Geschichte von Kampf, Aufstieg und Untergang der Zeitung. Die Story of "Freezing Point“, beschreibt den Versuch einer Transformation der chinesischen Öffentlichkeit – eine Studie der chinesischen Gesellschaft im Brennglas.

Erik Orsenna, Voyage aux Pays du Coton. Petit Précis de Mondialisation
Auf seiner Reise ins Land der Baumwolle besucht der französische Schriftsteller Erik Orsenna verschiedene Kontinente. Plantagen in Mali und den Vereinigten Staaten, Forschungslabors in Brasilien und Museen in Ägypten, ausgetrocknete Seen und Steppen in Usbekistan, Textilfabriken in China und Frankreich sind die Orte der Begegnung mit einem Rohstoff, der die Geschichte ganzer Länder geprägt hat und von dem Hunderte von Millionen Menschen bis heute leben und abhängig sind. Baumwolle findet sich in Hemden und Socken, aber auch in Würsten, Soßen, Filmen, Banknoten und sogar Speiseöl. Die Geschichte bringt die Mechanismen der Globalisierung zur Sprache, den Kampf um Marktanteile, das Streben nach neuen Produkten, den Kampf zwischen Geschichte und Modernisierung, zwischen multinationalen Konzernen und traditionaler Ökonomie, die Rhetorik von offenen Märkten und die weltweite Praxis des Lobbyismus.

Manjushree Thapa, Forget Katmandu: An Elegy for Democracy
Das Massaker und der Königsmord in Nepals Königshaus 2001 erschütterte die Legitimität der Herrscher. Die parlamentarische Demokratie wurde durch ein Notstandsregime abgeschafft, demokratische Freiheitsrechte außer Kraft gesetzt. Die Armut der Landbevölkerung wurde zum Nährboden einer maoistischen Guerilla, die heute ganze Regionen des Landes kontrolliert. Die nepalesische Romanautorin und Journalistin Manjushree Thapa beschreibt in Forget Kathmandu: An Elegy for Democracy die Entwicklungen einer Gesellschaft, deren pittoreske Schönheit die schreckliche Armut großer Teile der Bevölkerung verdeckt. Ihre Reportage führt durch byzantinische Herrschaftsstrukturen und in entfernte westliche Bergregionen des Himalaya-Landes, wo viele Dorf- und Landbewohner auf der Flucht vor der epidemischen Gewalt sind. Sie trifft einfache Menschen und begegnet Parteimitgliedern der maoistischen Organisation und versucht, deren Motive aufzuklären. Die patriarchalische Unterdrückung der Frauen in Gesellschaft und Familie sind ein Grund dafür, dass die Guerilla zum großen Teil von jungen Frauen getragen wird. Bei aller Zerstörung sieht die Autorin ein demokratisches Bewusstsein wachsen.

Zhou Qing, "What Kind of God".
A Survey of the Current Safety of China's Food
Der Reichtum ihrer Küche zeugt davon, wie sehr die viertausendjährige Geschichte Chinas verbunden ist mit der Geschichte des Essens. Erfolg und Scheitern der Herrscher hing davon ab, ob es gelang, den Menschen ausreichend Nahrung zur Verfügung zu stellen. Im heutigen Land des „chinesischen ökonomischen Mythos“ mit seinen Wachstumsraten, Wolkenkratzern und Weltmarkterfolgen wird das Thema der Nahrungsmittel wieder extrem wichtig. Produktion und Verkauf von Nahrungsmitteln können hohe Profite abwerfen; der Wunsch nach schnellem Reichtum führt auch im Reich der Speisen und Getränke zur moralischen Skrupellosigkeit. Zwei Jahre lang hat der chinesische Schriftsteller Zhou Qing für "What Kind of God". A Survey of the Current Safety of China’s Food recherchiert. Er interviewte Nahrungsmittelfabrikanten und Restaurantbetreiber, Fischzüchter, Bauern, Händler, Ärzte und Konsumenten. Antibabypillen beschleunigen die Fischzucht, DDT macht Pickles haltbarer, Hormone dienen als Nahrungsmittelzusätze, Salz wird chemikalisch angereichert, Industrieöl wird zu Speiseöl umgearbeitet. Antibiotika in Futtermitteln führen zu vorzeitiger Geschlechtsreife bei Kindern und ein Drittel der Krebserkrankungen wird heute auf vergiftete Nahrung zurückgeführt. Ein Volk ist dabei, sich selbst zu vergiften.

Initiatoren und Ziel des Preises

Die Kulturzeitschrift Lettre International ist Initiator dieses einzigen Weltpreises für literarische Reportage. Die Aventis Foundation ermöglicht den Preis durch finanzielle Unterstützung. Das Goethe-Institut ist Partner des Lettre Ulysses Award. Absicht der Initiatoren ist es, die Kunst der literarischen Reportage in den Fokus weltweiter Aufmerksamkeit zu rücken und ihre Autoren materiell und ideell zu unterstützen. Seit Oktober 2003 wird der Lettre Ulysses Award jährlich für Texte verliehen, deren Erstpublikation nicht länger als zwei Jahre zurückliegt. In diesem Jahr berücksichtigte die Jury Arbeiten, die nach dem 1. Januar 2004 veröffentlicht wurden.

Preise und Preisverleihung 2006

Im Rahmen des Lettre Ulysses Award 2006 werden drei Geldpreise von 50.000, 30.000 und 20.000 USD, Preise in Form von Arbeitsaufenthalten, die das Goethe-Institut ermöglicht, sowie wertvolle Uhren der Firma Nomos vergeben. Die Gewinner werden am 30. September, dem Samstag vor der Eröffnung der Internationalen Frankfurter Buchmesse, um 19 Uhr vor einem internationalen Publikum im Berliner TIPI-Zelt bekannt gegeben.

Resonanz des Preises

Die Etablierung des Lettre Ulysses Award 2003 hat bei Journalisten wie Schriftstellern sowie in Presse, Radio und Fernsehen international breite Resonanz gefunden. Die Preisverleihungen – 2003 an die russische Journalistin Anna Politkovskaja für ihr Buch über den Tschetschenien-Krieg und 2004 an die beiden chinesischen Autoren Wu Chuntao und Chen Guidi für ihre Reportage zur Lage der chinesischen Bauern – fanden international große Beachtung. Im Jahr 2005 erhielt Alexandra Fuller den ersten Preis für Scribbling the Cat. Travels with an African Soldier, ein Buch, das durch die Augen eines Söldners gesehen, von den Nachwirkungen der südostafrikanischen Befreiungskriege erzählte.

Bedeutung der Reportageliteratur

Zuletzt war der Lettre Ulysses Award im Fokus der Öffentlichkeit als Bundeskanzlerin Merkel bei ihrem Besuch in China Ende Mai die Preisträger des Jahres 2004, Chen Guidi und Wu Chuntao (Zur Lage der chinesischen Bauern, gerade bei Zweitausendeins erschienen), besuchte und sich über journalistische Arbeit in China und die Lage der chinesischen Bauern informierte.

Jury und Juryverfahren

Als Juroren des Lettre Ulysses Award arbeiten ausschließlich herausragende und vielfach preisgekrönte Schriftsteller und Reportageautoren. Die vielsprachigen Juroren repräsentieren zehn der größten Sprachräume und garantieren somit ein breites sprachliches und kulturelles Wahrnehmungsfeld. Als Sprachen sind vertreten: Arabisch, Chinesisch, Deutsch, Englisch, Französisch, Hindi, Portugiesisch, Russisch, Spanisch und Türkisch. Jurymitglieder sind frei, Texte aus allen Sprachen der Welt zu nominieren, die auf zwei Jurytreffen diskutiert und durch schriftliche Gutachten begründet werden. Die Arbeitssprache der Jury ist Englisch.

Die Mitglieder der Jury 2006

* Gamal Al Ghitani (Ägypten): Romancier, Essayist, Journalist
* Andrej Bitow (Russland): Romancier, Reiseschriftsteller
* Urvashi Butalia (Indien): Reporterin, Essayist, Historikerin
* Nedim Gürsel (Türkei): Romancier, Essayist, Reiseschriftsteller
* Isabel Hilton (Großbritannien): Reporterin, Schriftstellerin, Radioautorin
* Anne Nivat (Frankreich): Reporterin, Schriftstellerin
* Sergio Ramírez (Nicaragua): Schriftsteller, Journalist
* Pedro Rosa Mendes (Portugal): Reporter, Schriftsteller
* Ilija Trojanow (Deutschland): Schriftsteller, Reporter
* Yang Lian (China): Dichter, Essayist

Kontakt

Foundation Lettre International Award
Frank Berberich, Esther Gallodoro
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Tel: +49 (0) 30-30 87 04 –52/ –61, Fax: +49 (0) 30-283 31 28, E-Mail: lettre@lettre.de
www.lettre-ulysses-award.org

Zur ersten Presseerklärung / Longlist

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"I think this documentary prose should really break fixed boundaries."Svetlana Alexievitch (jury member 2003, 2004 & 2005)