Lettre Ulysses Award for the art of reportage


Lettre Ulysses Award Keynote Speech 2004 (Deutsch)



Abdelwahab Meddeb

Schmugglerpfade



Der Fuß stolpert auf dem Schmugglerpfad, nichts als Steine und Risse, die die ausgetretene Erde aufschlitzen, ich tänzle über sie hinweg, um den Pfützen auszuweichen, ohne die Marschlinie des stummen Gänsemarschs zu unterbrechen, der Weg steigt zu den Umrissen des Königspalasts hinan, Soldaten mit wilden Schädeln und verschlossenen Gesichtern über hochgewachsenen Körpern, die, ich fühle es, in der Lage wären, sich in Bestien zu verwandeln, jene Truppe, die den heiligen Bereich des Herrschers bewacht, unsichtbar hinter Mauern, die die Klippe und ihre Geröllhalden aus schwarzen Felsbrocken durchschneiden, mein Blick verliert sich im Spiegel des Wassers, bevor er sich wieder erhebt und über die Wellen im Graben der Engstelle zwischen den zwei Meeren, den zwei Kontinenten wandert, wo die Winde ihren Ursprung haben und dem Himmel eine kriegerische Dramaturgie verleihen, Wolkenfronten, die sich zusammenballen und auflösen, die dahinziehen und sich verfolgen, sich überlagern, die aneinanderstoßen, die bald in Schwarz und dann wieder in Weiß übergehen, ein ewiger Wechsel, der den Betrachter verwirrt, aber keinen Einfluß auf das Licht selbst hat, das bald in Nebel gehüllt ist, der den Raum auf die unmittelbare Umgebung reduziert, bald in aller Klarheit das Gesichtsfeld ins Unendliche erweitert, mit Hilfe des Herzmagneten Europa an sich heranziehend, das in Sichtweite, zum Greifen nahe liegt, die Überfahrt scheint nun evident, leicht und gefahrlos zu sein, dennoch meldet der Rundfunk täglich Tote, vom Meer ausgespuckte Leichen, wie Opfer, die einem unersättlichen Gott dargebracht werden, der seinen Anteil fordert, in einem Opferkult, dessen Priester die Menschenschmuggler sind, die sich im Dunkeln verbergen, wie soll ich sie ausfindig machen, wie sie erkennen unter all den Passanten, denen ich begegne, als ich schließlich in das Auf und Ab der Altstadtstraßen zurückkehre, vielleicht sind sie die Verbündeten der mondlosen Nächte, vielleicht lungern sie, während sie auf die dunkeln Stunden warten, die für ihre Missetaten günstig sind, in den verrufenen, düsteren und völlig verrauchten Bars herum, aus deren halboffenen Türen der Geruch von schlechtem Wein und nach Spülwasser schmeckendem Bier dringt, höhlengleiche Orte, die einen Kontrast zur draußen herrschenden, vom Wind gereinigten Helle bilden, einem Wind, der die Augen auswäscht und die Nerven blank reibt, sie schärft und bis zum Zerreißen spannt, wie um sie darauf vorzubereiten, die unentwegt zu erahnenden Zeichen des Übels zu erfassen, die Opfer des Rituals hingegen, deren Bestimmung es ist, den durch die Kreuzung zweier Meere entstandenen Furor zu besänftigen, sind leicht auszumachen inmitten der Menge, in der zahlreiche orientierungslose Jugendliche zu erkennen sind, die ihre Wut zur Schau stellen oder in eine geduldige Resignation verfallen sind, die sich mit einem Stimmungsumschlag in eine Revolte verwandeln kann, sie träumen von einer besseren Welt, das Paradies vor Augen, schaut nur, es liegt in Reichweite unserer Arme und Beine, nur zwölf Kilometer entfernt, um sie zu überwinden, braucht es nur einige Flügelschläge, um die Wolken aufzureißen, einige Armzüge, das weite Meer zu teilen, das so glatt ist wie ein Spiegel, der das Blau des Himmels reflektiert, ein Kindheitstraum, der einen in den Körper einer Möwe oder eines Delphins schlüpfen läßt, damit nach sieben mal sieben die Luft oder das Wasser teilenden Bewegungen die Füße den Staub des Paradieses aufwirbeln können, die Ordnung des Sichtbaren bietet in der Tat ein grausames Trugbild, das sich mit wirklicher Schönheit schmückt, jenes Vis-à-vis mit dem anderen Kontinent, das einen bisweilen an einer Straßenbiegung überrascht, als unerwartete Sichtachse, die sich dem Auge darbietet, nachdem man das Hindernis einer steil ansteigenden Straße genommen hat und verblüfft feststellt, daß das Land Europa durch die Straßen Tangers geistert, warum jedoch erweist sich dieses demselben Klima unterworfene Land als derart verschieden, warum wird es als ein Land wahrgenommen, von dem die im Fernsehen aufgeschnappten Bilder einer anderen Welt zeugen, die einen Traum transportieren, den jeder halbwegs Aktive glaubt realisieren zu können, warum führt dieser so nahe Ort zu einer so fernen Welt, warum muß man sich, um dorthin zu gelangen, einem Initationsritus unterziehen, bei dem der Kandidat sein Leben riskiert, es ist eine paradoxe Landschaft, die sowohl den Tod als auch die Schönheit atmet, das Licht, das zweimal die Malerei verwandelt hat, 1832 mit Delacroix und 1912 mit Matisse, beleuchtet auch ein Theater des Todes, ausgespäht von mehr als tausend gierigen Augen, die unruhig aus ihren Höhlen in den Gesichtern der jungen Männer starren, die ihrem Land den Rücken kehren und das gegenüberliegende Ufer fixieren, wenn sie bei kristallklarem Wetter die Autos auf der gerade so zu erahnenden Küstenstraße verfolgen, die die übereinander geschichteten weißen Blöcke verlängert, die Tarifa bilden, es sind nicht nur Einheimische, die ein solches Exil ins Auge fassen, ich sehe auch Leute aus dem tiefen Innern des Kontinents, Schwarze aus südlich der Sahara gelegenen Ländern, die nicht einmal Französisch sprechen, sobald man an einer roten Ampel hält, stellen sie sich vor einen hin, mit glühenden Augen, abgemagert, vom Hunger gepeinigt, und flehen in einem approximativen Englisch um Nahrung, wobei sie nicht einmal ein Almosen in Geld fordern, sie sind bereit, Ihnen wohin auch immer zu folgen, um irgendetwas zu bekommen, mit dem sie ihren leeren Magen füllen können, auch sie tragen ihren Teil zum Opfer bei, ich habe mit eigenen Augen einen von ihnen als aufgedunsene Leiche gesehen, auf europäischer Seite vom Meer ausgespuckt, ganze Stücke der schwarzen Haut waren bereits zerfressen, wodurch das bläßliche Rosa faserigen Fleisches zum Vorschein kam sowie das Weiß von Fingerknochen, an denen Nervenbündel hingen, was wird eigentlich aus denen, die sich gesund auf andalusischem Boden wiederfinden, ich habe sie getroffen am Rande von Moguer, in der Nähe von Rabida, nicht weit von der Flußmündung, die einen Industriekomplex beherbergt, in der Gegend um Huelva, an diesen durch die Geschichte des Kolumbus geweihten Gestaden, die drei Karavellen, die Amerika entdeckten, wurden hier mit Waffen bestückt, die Besatzung stammte von hier,  Abenteurer, deren Nachkommen die Zeugungskette unterbrachen und leere Räume zurückließen, in kleinen, dünn besiedelten Ortschaften, deren ausfransende Ränder den aus der Meerenge Geretteten überlassen wurden, Gruppen von Schwarzen, die ihre Lebenskraft für Ernte- oder Feldarbeiten anbieten, auf Gemüse- und Obstplantagen, die Europa mit einer Vielfalt von Saisonfrüchten beliefern, die an diesem äußersten Rand eines Mittelmeers reifen, das sich unter dem Einfluß des Ozeans bereits verändert hat, es sind auffällige, isolierte Gruppen, die sich ihrer fragilen Neuheit bewußt und noch nicht in die Landschaft integriert sind, ich frage mich, ob sie ein Agglomerat provisorischer Solidarität unter Individuen darstellen, die den Bann gebrochen haben, Abenteurer der Emigration, oder ob es Menschen sind, die sich in Netzen verfangen haben, die sie der nunmehr sehr fernen Gemeinschaft, in der sie geboren wurden und aufwuchsen, für immer entfremden, und was wird an diesem Ufer aus jenen Marokkanern, denen es gelingt, die Meerenge des Nachts auf abenteuerlichen Booten zu überqueren, sie verlassen die Stadt auf dem Schmugglerpfad, auf dem auch ich mich eines Tages bei Anbruch der Nacht als Spaziergänger wiederfand, gemeinsam mit einer Gruppe von Freunden, angeführt von einer jungen Photographin, die einen Teil ihrer Kindheit in einem Haus an der Steilküste verbrachte, bei dem ein solcher Schmugglerpfad begann, eine Frau, die von ihrer Wohnung aus täglich auf die Meerenge blickt, eine Vertrautheit, die sie dazu anregte, sich mit den Kandidaten der heimlichen Auswanderung zu verbünden, auf die sie zunächst in Tanger stieß und die sie in ihrer Europasehnsucht aufnahm, während sie die Überlebenden unter ihnen in Marseille wiedertraf, sie litten unter Anpassungsschwierigkeiten und strahlten die extreme Gewalt des Unartikulierten aus, die sich ergibt, wenn man sich selbst nicht mittels Sprache zu reproduzieren vermag, die Photographin rüttelte sie wach und regte sie zur Innenschau an, indem sie sie dazu brachte, ihr Wesen durch die Illustration ihres eigenen Bildes darzustellen, das sich jenem Lichtraub anpaßt, der sich ergibt, wenn das Klicken des Auslösers die photographische Aufnahme in der Black box fixiert, eine Geste, die es ihnen erlaubt, eine Analogie zu jenem Christuswunder herzustellen, das sie vor dem Ertrinken rettete, so als wären sie über das Wasser gewandelt, oder mit der sie von neuem die Strategie der Tiefe zu erfinden vermögen, so als hätten sie die Abgründe unter dem Meer durchschritten, die Pforten des Unbekannten, der undurchdringlichen Welt der Dunkelheit, ebenso einhüllendes wie erweiterndes Ende, ein Korridor, von dem man in der Antike dachte, daß er von zwei vom Koloß Herkules bewachten Säulen freigehalten würde, welchen Schrecken muß man erlebt, welche Verzweiflung verinnerlicht haben, um den Ort, an dem der Zufall einen zur Welt kommen ließ, unter Lebensgefahr zu verlassen, als würde man einer Kriegsfront entfliehen, ein Deserteur, der vom Verrat versucht wird, was eine unergründliche innere Kluft aufreißt, die geschickte Verführer mit den Projekten eines Selbstmordterrorismus zu füllen vermögen, auf diese Weise hätte der aus dem Meer gerettete Körper seine Opferung nur aufschieben müssen, während er auf die Umorientierung des Opfers wartet, vom puren Verlust durch Ertrinken in den Wogen und Strömungen am Schnittpunkt der beiden aufgewühlten Meere hin zur fanatischen Instrumentalisierung des im Namen der religiösen Identität begangenen Verbrechens, kann ich überhaupt ermessen, welches Elend das Subjekt dazu treibt, alles zu verlassen, kann ich es identifizieren, wenn ich Tanger und sein die Stadt verlängerndes Hinterland durchstreife, wenn ich mit seinen Einwohnern spreche, wenn ich seine Widersprüche, Paradoxe und Aporien beurteile, seine Hierarchie, seine Reichen mit ihrer Arroganz, Verantwortungslosigkeit und Unmenschlichkeit, oder seine Armen, seine zurückgelassenen Stiefkinder, Verstoßenen und Verachteten, seine Bettler, Prostituierten und grell geschminkten Transvestiten, seine Diener, die Herren auf den Hügeln und die Hungerleider in den Niederungen, seine Kot- und Leichenfresser, seine zweifelhaften, wüsten Polizisten und seine hinterhältigen Spitzel, seine Imame mit ihren flammenden Predigten, die aus den Lautsprechern dröhnen und die Sinne attackieren, seine Hochzeiten mit ihren lärmenden Trompeten, die im Morgengrauen den Schlaf unterbrechen, seine Halunken und Schwarzhändler, die sich kitschige Villen bauen lassen, die sie nie beziehen, seine Dealer und die offensichtlichen Zeichen von Geldwäsche, durch die schmutziges Geld infiltriert und sich in Mietshäusern manifestiert, die mit ihren Materialien protzen, daß die Dysfunktion einer Gesellschaft mit bloßem Auge erkennbar ist, fügt dem Drama nichts hinzu, rechtfertigt die Tragik einer Situation keineswegs, angesichts der Heimsuchungen Marokkos rufe ich das Elend Indiens ins Gedächtnis, erinnere an das Desaster Ägyptens und an die von der Armut gezeichneten Gestalten, die die Stadtlandschaften jenseits des Atlantiks durchstreifen, ob wohl das Elend ein Grund für das Abtrünnigwerden oder den Ruf des Risikos ist, der einen dazu bringt, wenn schon nicht sein Leben daranzugeben, so doch zumindest eine bereits angeschlagene Identität noch weiter zu beschädigen, und was eine unüberwindliche Grenze zwischen den beiden Kontinenten darzustellen scheint, ist in Wirklichkeit eine der meistfrequentierten, bekanntesten, offensten Grenzen zwischen zwei legitimen, respektablen und friedlichen Staaten, die je nach den Wechselfällen der politischen Konjunktur ihr Bündnis zu pflegen vermögen, eine Grenze, die von einem kontinuierlichen Strom von Reisenden überquert wird, im Rhythmus einer Fähre, die stündlich, in den Sommermonaten sogar noch häufiger verkehrt, wenn die Flut der Pkws in die Zehntausende und die der Busse und Lastwagen in die Tausende geht, die Millionen von Marokkanern in die verschiedensten Regionen Europas bringen, von denen zahlreiche die Staatsbürgerschaft des einen oder anderen Aufnahmelandes erhalten haben, gemäß dem droit du sol [Recht des Bodens], das beinahe überall auf dem Alten Kontinent das droit du sang [Recht des Blutes] abgelöst hat, bei der Heimreise der aus Marokko Stammenden kommen noch die vielen europäischen Besucher hinzu, ohne diejenigen zu vergessen, die im Kielwasser der hispano-marokkanischen Mischbevölkerung reisen, die eine Welt für sich bildet, in der sich eines der konstitutiven Elemente der Stadt bewahrheitet, in ihrer bunt schillernden Schwebe zwischen Himmel, Erde und Meer, ersteht schließlich immer wieder neu das Problem der unüberwindlichen Grenze, der wohlbewachten Barriere, im supplementären Rest, in dem sich die ungelösten Probleme verdichten, zunächst die der marokkanischen Gesellschaft als einem unterentwickelten, korrumpierten, von der Krise des Islam betroffenen afrikanischen Gebilde, dann die Probleme Spaniens, das vor kaum vierzig Jahren seine Unterentwicklung überwand, das seine Modernisierung vollendete, indem es vor gerade mal zwei Jahrzehnten nach Europa zurückkehrte, und das weiterhin bemüht ist, sein geistiges Erbe zu "entafrikanisieren" (dieser Ausdruck Miguel des Unamunos geistert immer noch durch die Köpfe), indem es den fruchtbaren jüdischen und arabischen Teil seiner Geschichte verdrängt, schließlich die Probleme Europas, das unablässig grübelt, welche Strategie es einschlagen soll angesichts des Drucks aus dem Süden, der auf dem Gegensatz von Arm und Reich gründet und durch zwei umgekehrte, aber objektiv gesehen komplementäre demographische Tendenzen verstärkt wird, wobei das Ganze noch durch die Heterogenität der Identitätsreferenten verschärft wird (denn welchen Platz soll man dem Islam einräumen gegenüber den griechisch-jüdisch-christlichen Bestandteilen des archäologischen Fundorts, über den sich die Spuren der europäischen Zivilisation erheben?), andererseits herrscht kein Mangel an Gründen, in Tanger zu leben, ich erinnere nur an die künstlerisch-ästhetische Suche, die Delacroix anlockte, der die Antike entdeckte, während er den Orient zu finden glaubte, womit auf den lebendig gebliebenen antiken Anteil hingewiesen ist, trotz aller Veränderungen aufgrund der weltweiten Verbreitung der Technik leistet etwas Widerstand, ich selbst bin sensibel für das, was von jener Noblesse bleibt, die die Niedrigen emporhebt, von der Sorge um sich selbst, die Delacroix fasziniert hatte, im Gestus oder der Kleidung dieses Schusters oder jenes Maultiertreibers erkannte er die umfassende Größe eines Cato, eines Cäsar, und ich entdecke Nachfolger der Protagonisten seiner Jüdischen Hochzeit unter jenen Musikern, die sich Sonntags vor dem Abendgebet in einem andalusischen Café im al-Mashân-Viertel, unweit der Medina und der Küste, treffen, eine richtiggehende informelle Akademie führt die aus dem muslimischen Spanien ererbte klassische Tradition fort, mit ihrer strengen Instrumentalbegleitung und variantenreichen Stimmführung, auch die Klangmassen, die die Weissagungen der Verzückten von Tanger (ebenfalls von Delacroix gemalt) modulieren, dringen weiterhin durch den Raum der Zawiya, jenes Konvents, auf den sich der starre Zug der Aïssawa-Bruderschaft zubewegt, zahlreiche Ausdrucksformen des Alten sind immer noch lebendig, sie existieren neben anderen Formen, die andere Einwohner Tangers prägen, die in ihrem Innern jene Zeit angenommen haben, die das Imaginäre, das Symbolische oder die Aufführungs- und Darstellungstechniken auf ihrem aktuellsten Stand regiert, es ist dieses plurale Nebeneinander der Zeiten, das der Stadt ihre Dichte verleiht, in der Vielfalt ihrer Ebenen und ihrer Typen, trotz aller Veränderungen, die eine solche Agglomeration durchgemacht hat, genieße ich den Schatten, den die Jochbögen der Moschee werfen, die Mulay Ismael im 17. Jahrhundert innerhalb der Mauern erbauen ließ, ich entziffere die monumentale Kalligraphie, die mit ihren weit ausholenden Kursiven den aus Zedernholz geschnitzten Sims des Portals ziert, gemalte Buchstaben, die auf die Ende des 19. Jahrhunderts von Mulay Hassan angeordnete Restaurierung hinweisen, Farbtöne, die mit den glänzenden Keramikfliesen eine Resonanz bilden, die das Minarett rhythmisieren, dessen Schattenprofil auf die seitliche Plattform fällt, die mir mit der Vorhalle einer byzantinischen Basilika vergleichbar erscheint, die den Katechumenen einen Ausblick auf den Hafen bietet, und in der Rue Ben Abbou im Herzen der Kasbah bemerke ich den wilden Kontrast zwischen den gelben, grünen und malvenfarbigen Tönen, die die gerippte und an ihrer Basis gezackte Kuppel der Grabmoschee des Marabut Sidi Berraïsoul illuminieren, wie sie auf dem Gemälde von Matisse erscheint, im üppig wuchernden wilden Teil eines auf einem Hügel über der Klippe liegenden Privatgartens finde ich die Spontaneität, die Rasanz, den flammenden Elan der Akan-thus-, Immergrün- und Palmblätter wieder, mit denen Matisse in dem, was einige das "Marokkanische Garten-Triptychon" nennen, den Frühling ehrt, etwas anderes noch widersteht und überdauert in der von Matisse gemalten Menschlichkeit, Echos in den Gesichtszügen und Kleidern, wie sie in der lebendigen Gegenwart von Zorah, der Maultiertreiberin Fatmah oder des Rifkriegers evoziert werden, aber erst im Café al-Hâfa, "der Rand, der Abgrund, die Klippe", finde ich die Ruhe, die Gelassenheit, die Ekstase und die Einfachheit des Marokkanischen Cafés wieder, das zwei in Kontemplation versunkene Menschen zeigt, die, der eine sitzend, der andere liegend, gleichsam vor drei Blumen und zwei roten Fischen schwebend stundenlang verharren, voll und ganz in ihrem Nichtstun aufgehend, so entrückt in die verschlungenen Wege des fanâ’, jenes zur Auslöschung des Ich führenden Prozesses, daß ihre Gesichtszüge vom Ocker absorbiert werden, das man an ihrer Schädeldecke erblickt, wo es ein Gegengewicht zum Weiß des Turbans bildet, oder auf den Händen, den Schienbeinen und den Waden, wo es mit dem perlenfarbenen Grau der Djellabas kontrastiert, die zwei in der Mitte des Raums werden im Hintergrund, auf demselben grünen Boden, von vier Musikern und Sängern begleitet, die kleiner gemalt sind (das einzige Zugeständnis an die Perspektive) und sich mit derselben dreifaltigen Palette (das Ocker der Haut, das Weiß des Turbans und das Grau der Djellaba) von der Balustrade abheben, die die Form eines Portikus besitzt, dessen Bogen und Säulen schwarz vom graugrünen Hintergrund abstechen, der Maler ist sensibel dafür, wie die Menschen zur Ruhe finden und in Ekstase geraten, durch die Kraft der geduldigen Ergebung in eine rauhe und dichte Natur, die die zahmste aller Blumen verwildern läßt, zwei Eigenschaften, die die südlichen Gestade von den gegenüberliegenden unterscheiden, als ob die Wahrheit ein und desselben Klimas sich aufspalten müßte, um jene Wahrheiten aufzunehmen, die sich auf den Kontinent und die spirituelle Interpretation des Glaubens beziehen, der die Herzen prägt und die Höhenflüge des Geistes befreit, wildes Afrika, Sufismus eines ekstatischen Volks, das ist es, was Matisse für sich eingenommen hat, und das ist es auch, was meine Herkunft mit meinem europäischen Bestandteil versöhnt, in der Nostalgie des Verlusts und im Verlangen, die Vielfalt, die unsere Welt bevölkert, zu leben, warum aber halten diese Tugenden nicht auch diejenigen unter den Einheimischen zurück, die von der Europasehnsucht besessen sind, einer Sehnsucht, die zwischen Faszination und Zurückweisung zerrissen wird, eine Ambivalenz, der jener Riß einbeschrieben ist, der mit der schlechten Energie des Ressentiments bis zum Verbrechen führen kann, wie bei jenen, die am 11. März das Madrider Attentat am Bahnhof von Atocha begingen, fast alle von ihnen kommen aus Tanger, aus kleinbürgerlichen Vierteln, die wir kaum erkundet haben, und aus anderen Randvierteln, die sich mit rasender Geschwindigkeit in die Obsthaine, Gärten und kleinen Wäldchen fressen, die die Stadt umgaben, oder aus den Elendsvierteln, in denen die Fundamentalisten, wie man uns sagt, die Seelen dadurch zu erobern vermögen, daß sie die elementaren Bedürfnisse einer völlig mittellosen und ihrem Ruin überlassenen Bevölkerung befriedigen, woraufhin mir ein befreundeter UNICEF-Experte, der seinem kommunistischen Ideal die Treue hält, versichert, daß es genügen würde, genau dasselbe zu tun, um diese Elendsschicht von den fundamentalistischen Sirenen abzulenken, deshalb steht er nun bei den Fundamentalisten auf der Todesliste, eben aufgrund seiner Konkurrenzaktion, die er in ihrem Rekrutierungsgebiet und einer ähnlichen Strategie folgend durchführt, bleibt noch zu untersuchen, welches Übel den Körper dieser Gesellschaft zersetzt, ein Übel, dessen Symptom ich unweigerlich auch darin erblicke, wenn unter jungen Frauen und Mädchen das Kopftuchtragen propagiert wird, das Zeichen einer Krankheit, in der ich die Wirkung einer freiwilligen Knechtschaft erkenne, die verhindert, den Schatz zu sehen, auf dem man sitzt, um ausschließlich das Versprechen eines Schatzes zu begehren, das Sie von hier weg und anderswohin schickt, und wenn Sie dort ankommen, stellen Sie fest, daß der Schatz genau da vergraben ist, von wo Sie herkamen, doch in diesem Hin und Her, mit der Errungenschaft einer Freiheit, die Sie unterschiedslos zwischen Luxushotel und Spelunke, Schloß und Hütte hin und her wechseln läßt, in diesem Spiel und mit dieser Errungenschaft werden Sie diese Fabel, hin und her gerissen zwischen dem Hier und dem Anderswo, für immer darangeben, Sie werden das Wissen genießen, das Ihnen sagt, daß der Schatz nirgendwo ist, ein Wissen, das Sie dazu bestimmt, umherzuirren, Irrgärten und Labyrinthe zu durchlaufen, Grenzen zu überschreiten, von einem Kontinent zum anderen zu nomadisieren, und dabei unaufhörlich Verschiedenes und Heterogenes zu entdecken, in einer Welt, die das Zeitalter der Technik der Autorität einer einzigen Macht unterwerfen will, deren Einförmigkeit Sie aber dadurch stören werden, daß Sie das Fremde befragen, wozu jeder Ihrer Halte Sie anregt, am einen wie am anderen Ufer, wie auch immer die Bleibe aussehen mag, in der Sie zu Gast sind.


Aus dem Französischen von Markus Sedlaczek
© Foundation Lettre International Award

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"When a writer goes to a conflict, he is not part of the country, but he has a heart, he has humanity, vision, and then from Ramallah to Jamaica, he can describe the suffering of people."Gamal Al-Ghitany (jury member 2005 & 2006)